Das Interesse am Regiogeld zeigt beinahe exponentielles Wachstum: Mit über 240 Teilnehmer/innen sind es im Vergleich zum ersten Kongress fast doppelt so viele, die zum zweiten Regiogeld-Kongress vom 19. bis 21. März 2004 nach Prien am Chiemsee gekommen waren. Auch der Frühling war pünktlich herbeigeeilt und sorgte für angenehme Temperierung der Temperamente im kleinen Kursaal des Ortes. Nicht weit von dort hatten vor gut einem Jahr sechs Oberstufenschülerinnen der Waldorfschule und ihr Wirtschaftslehrer den Chiemgauer konzipiert – eine dem Euro „angehängte“ Komplementärwährung zur wirtschaftlichen Stärkung der Region gegenüber der Marktmacht von fernen Konzernen. Und es funktioniert. Mehr noch: Das inzwischen schon Spiegel-populäre Projekt machte nicht nur die jungen Damen zu Learning-by-doing-Unternehmerinnen, sondern auch die Leute im Land schlauer. Für die nämlich wird erstmals erfahrbar, was umlaufgesichertes Geld bewirken kann.
Worte vom Bürgermeister
„Erstaunlich, dass bei dem schönen Wetter so viele Menschen hier im Saal sitzen, das Kongressprogramm muss ja ganz schön spannend sein“, so der Priener Bürgermeister Christian Fichtl, der zur Eröffnung des Kongresses am Freitag zunächst die Chiemgau-Region thematisierte, bevor er dann das Chiemgauer Regiogeld-Projekt feierte, das er übrigens von Anfang an unterstützt hat. Er ist ein Beispiel dafür, dass es auch Politiker gibt, die etwas von „All Business is Local“ verstehen.
Präsentation vom Chiemgauer-Team
Zusammen mit ihrem Lehrer Christian Gelleri führten die Chiemgauer-Erfinderinnen vor, wie aus einem Gutschein-Netzwerk Schritt für Schritt ein echtes regionales Zahlungsmittel entsteht. Insgesamt haben sich bisher etwa hundert Anbieter von Waren und Dienstleistungen am Projekt Chiemgauer regional beteiligt. Sogar zwei landwirtschaftliche Chiemgauer-Wirtschaftskreisläufe haben sich schon gebildet. Dazu gehört eine Käserei, die ihre zuliefernden Schäfer mit Chiemgauern bezahlt, mit denen die Schäfer dann wiederum ihre Einkäufe bei regionalen Einzelhändlern bezahlen, die wiederum ihre Lieferanten mit dem Chiemgauer bezahlen. Zu den Vertragsunternehmern gehören Gastronomie- und Handwerksbetriebe, Demeter-Landwirte, ein technischer Großhandel in Traun und immer mehr Einzelhändler. So zum Beispiel ein Jeans-Geschäft, eine Bäckerei mit 18 Filialen rund um den Chiemsee und ein Regionalmarkt, bei dem schon zehn Prozent seiner Chiemgau-Kulinarien in Chiemgauern bezahlt werden. „Jeder profitiert vom Chiemgauer, auch Kommunen und Sozialwesen, weil Regionalwährung in der Region bleibt“ meint der Unternehmer Gerd Waizmann, der das Projekt RegOel vorantreibt. Er will herkömmliche Tankstellen für den Verkauf seines Pflanzenöls gegen Chiemgauer gewinnen. Bei allem Schwung des Anfangs wollen die jungen Chiemgauer-Unternehmerinnen aber nicht übersehen, dass noch letzte technische oder rechtliche Hürden zu nehmen sind. Aber die sollen schon in Kürze durch ein elektronisches Verbuchungssystem übersprungen werden: Mehrere Banken und Kartenbetreiber kooperieren bereits mit der Initiative.
Vom Globalen und Regionalen
In seinem Referat „Globalisierung gestalten“ betonte der Sozialwissenschaftler und Publizist Dr. Christoph Strawe aus Stuttgart zunächst, dass es nicht viel bringe, einfach nur den „Bush-Globalismus“ zu kritisieren. Vielmehr habe es jede und jeder selbst in der Hand, in der Region gestalterisch tätig zu werden und diese demokratisch mitzugestalten. Globales Denken müsse mit dem regionalen Handeln einhergehen, daher sei ein Projekt wie der Chiemgauer wichtig für die Zukunft nicht nur des Chiemgaus, sondern für die ganze Welt. Das Interesse aus Ungarn, Polen, Kanada, Südamerika, Russland, China und den USA zeige die Bedeutung des Themas Regiogeld, das nicht länger nur als Nischenprodukt oder Insellösung missverstanden werden dürfe, sondern in einer Balance zwischen Globalisierung und Regionalisierung gesehen werde müsse. Die richtige Mischung aus Offenheit für globale Ideen und Kulturen einerseits und Bodenständigkeit andererseits sei ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Wirtschaft des neuen Jahrhunderts. Nicht länger dürfe das alte „Immer mehr, immer größer, immer weiter“ das Bewusstsein der Menschen prägen, sondern ein inneres und äußeres Gleichgewicht als Grundlage einer stetigen Entwicklung.
Eine Vision vom Europa der Regionen
Samstag Nachmittag gab es eine kleine Deutschland-Premiere im kleinen Kursaal in Prien. Prof. Dr. Margrit Kennedy signierte das gemeinsam mit Bernard A. Lietaer fertiggestellte Buch „Regionalwährungen – Neue Wege zu nachhaltigem Wohlstand“, das jetzt im Handel ist. Gemeinsam beleuchten die Autoren die Auswirkungen des kapitallastigen Wirtschaftssystems, das mehr die Spekulation mit Geld als den Austausch von Waren und Dienstleistungen fördert. Die Autorin erklärte ihre Vision vom Europa der Regionen und ihre in dem Buch aufgezeigten Wege zur praktischen Umsetzung dieser Vision durch regionale „Bausteine“. Modelle dafür seien schon in der Realisierung. Sie nannte nicht nur Regiogeld-Initiativen wie den Chiemgauer, sondern auch Beispiele ethischen Sparens und Investierens in der Region. Besondere Aufmerksamkeit erregte ihr Hinweis: „Der Gewinn für den Sparer wird nach unseren Vorschlägen nicht der Zins sein, sondern dass gespartes Kapital keinen Verlust erleidet.“
Rechtliches vom Rechtsexperten
Die rechtliche Seite des Regionalwährungsprojekts beleuchtete Dr. Hugo Godschalk aus Frankfurt. In einem erstmals öffentlich vorgestellten Rechtsgutachten legte Dr. Godschalk dar, dass es in Deutschland legale Möglichkeiten zum Betrieb von Regionalwährungen im größeren Umfang gibt. Eine Sparkasse im Osten Deutschlands wird dieser Tage auf Basis dieses Rechtsgutachtens die Entwicklung einer bankbasierten Regionalwährung beschließen. Auch das Chiemgauer-Projekt wird bereits von einer Bank begleitet: Kontakte zu regionalen Banken mehren sich.
Ermutigendes vom Macher
Lehrer Christian Gelleri erklärte ergänzend: „Für unsere Banken in der Region eröffnet sich über den Chiemgauer ein neuartiges Marketing-Instrument, in ein paar Jahren vielleicht sogar ein neues Bankprodukt, sozusagen das Regiokonto als selbstverständliche Einrichtung neben Spar- und Girokonto“. In diesem Zusammenhang kündigte Gelleri den E-Chiemgauer an und machte weiteren Mut: Das leidige Thema der ewig knappen Finanzen könne über kreative Innovationen von den Regionen selbst gelöst werden. Als Vorbild nannte er den berühmten Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen habe.
Worte vom Anderlbauer
Spannend wurde es am Nachmittag, als erstmals seit Gründung der Chiemgauer-Initiative Unternehmer, Vereine, Kunden, Chiemgauer-Herausgeber und Experten in einem Podiumsgespräch miteinander diskutierten. „Der Chiemgauer is a guade Sach“, brachte es der Anderlbauer aus Frasdorf auf den Punkt. Im Verlauf der engagierten Diskussion gab es auch einige Verbesserungsvorschläge, vor allem zur Handhabung der Gutscheine und zur Öffentlichkeitsarbeit des Schülerunternehmens. Als dringlichste Aufgabe wurde die Bildung und Erweiterung regionaler Kreisläufe erkannt: „Der Chiemgauer wird sich dann bewähren, wenn umweltfreundliche Produktinnovationen wie zum Beispiel das regionale Pflanzenöl gelingen. Wenn die Leute merken, dass da Wertschöpfung aus der Region für die Region entsteht, dann setzt sich die Idee durch.“ Aber auch das Henne-Ei-Problem wurde thematisiert: Fängt niemand an, passiert nichts. Und wenn der Erfolg nicht sichtbar ist, macht niemand mit. „Es ist kein Zufall, dass das Projekt in einer Schule mit viel Idealismus gestartet wurde“, betont Mirjam Fochler, die Geschäftsführerin des Vereins. Auf die Kritik, dass der Chiemgauer ja doch eher ein „Waldorf-Gutschein“ sei, antwortete Cathrin Förster, die Marketing-Chefin des Schülerunternehmens: „Wir sind sechs bekennende Waldorf-Schülerinnen und unterstützen natürlich etwas in unserem Umfeld, also zum Beispiel den Neubau hier an unserer Schule. Wer mit dem Chiemgauer etwas anderes unterstützen will, kann das ebenso tun, und zwar ganz einfach: Gutscheine kaufen, damit einkaufen, und schon sind drei Prozent davon bei einem gemeinnützigen Projekt.“ „Bissl umständlich“ sei der Gutschein schon, bemerkte ein Vereinsvertreter, aber jetzt sei ja eine sehr einfache elektronische Lösung in Reichweite.
Die Idee vom starken Gespann
Joachim Sikora, Direktor des Katholisch Sozialen Instituts der Erzdiözese Köln, referierte über Visionen und Leitbilder für das 21. Jahrhundert. Die Krise der Gesellschaft könne nur mit konkreten Visionen überwunden werden wie zum Beispiel dem Regiogeld, so das Fazit von Sikora. Werner Küppers vom „Omnibus für direkte Demokratie“ berichtete, dass er in den letzten Monaten immer wieder auf das Geldthema angesprochen worden sei: „In Ostfriesland, in Magdeburg oder in Köln fragten mich die Menschen immer öfter nach dem Chiemgauer. Und wenn ich ihnen dann die Gutscheine zeigte, fingen sie zu staunen an und zu überlegen, wie so etwas bei ihnen aussehen könnte.“ Im Abschlussplenum gab ein Teilnehmer schon mal einen schönen Denkanstoß für die Überschrift dieses Kongressberichtes: „Wir brauchen den Euro für das europäische Bewusstsein und den Regio für das regionale Bewusstsein. Das ist doch ein starkes Gespann.“
Von Kongress zu Kongress
Innovatives braucht Langfristplanung. Das gilt auch für die Kommunikation. Deshalb freuten sich viele, dass der Termin für den dritten Regiogeld-Kongress bereits feststeht: Donnerstag, 5. Mai (Christi Himmelfahrt) bis Sonntag, 8. Mai 2005, wieder in Prien. Auch zum Programm ist schon einiges bekannt: Prof. Dr. Margrit Kennedy wird über „Geld und Spiritualität“ referieren, Christian Gelleri und sein Team werden den E-Chiemgauer vorstellen, Thomas Mayer wird über das Regionetzwerk sprechen, Klaus Kopp über „Geschwisterliches Wirtschaften in der Region“ und Franz Galler über den „Sterntaler als Beispiel für die Verknüpfung von Tauschringen und Regionalwährungen“. Alles Weitere steht in der Einladung.